Hildegard von Bingen war eine visionäre und rebellische Nonne

Die erste große deutsche Naturwissenschaftlerin

Wer kennt das Klischee nicht? Die Vorstellung von Hildegard von Bingen, „einer sentimentalen Ordensfrau, so schwärmerisch-überspannt, eine exotische Visionärin, die in ihrem Klostergärtlein zufällig ein paar passable Heilkräuter gezogen hat und daraus alternative Kochrezepte entwickelte“, wie Christine Büchner in ihrem Buch „Hildegard von Bingen. Eine Lebensgeschichte“ schreibt.

Hildegard von Bingen wurde 1098 in Bermersheim bei Alzey als zehntes Kind einer adeligen Familie geboren. Sie war eine  Persönlichkeit voller Energie! Hildegard von Bingen war Künstlerin, Wissenschaftlerin, Mystikerin, Ärztin, Dichterin und politisch engagiert. Über 300 Briefe belegen, dass sie nicht nur Kaiser Friedrich von Barbarossa als Ratgeberin diente, sondern auch mehreren Päpsten, Königen, Bischöfen und Ordensoberen. Für die damalige Zeit war das eine äußerst ungewöhnliche Rolle einer Frau, zumal ihre Lehren sehr unbequem waren: „Denn schwarz sind die Sitten der Fürsten, die in Ausgelassenheit und Schmutz daher laufen. Wirf als die Habsucht ab und wähle Enthaltsamkeit: Dies ist was der höchste König liebt.“

Auch das Thema Sexualität mit der Beschreibung des männlichen Geschlechtes („den Stamm und die zwei zellartigen Gebilde“) spricht sie an. Ebenso wird die Rolle der Frau mutig von ihr thematisiert. Doch sie war nicht nur Nonne, Theologin und Gesellschafskritikerin. Hildegard von Bingen wird auch als „die erste deutsche Naturwissenschaftlerin” bezeichnet, da sie zwei naturwissenschaftliche und heilkundliche Werke verfasste. 

Visionärin auf Reisen

Im Alter von 60 Jahren begibt sie sich auf eine erste Predigtreise -  unter anderem nach Mainz, Würzburg und Bamberg. Man muss sich versuchen vorzustellen, was das bedeutet: Als Frau predigt sie vor kirchlichen und weltlichen Oberhäuptern - und das gleich mehrere Male und mit äußerst unerhörten Forderungen: „Wenn daher der pechschwarze Vogel, der Teufel spürt, dass der Mensch durch Fasten, Beten und Enthaltsamkeit von seiner unerlaubten Sünde ablassen will, rollt er sich wie eine Natter zusammen und flüstert: Deine Sünden können nur getilgt werden, wenn du deinen Leib durch Trauer und Tränen niedertrittst.“ Drei weitere Predigtreisen führten sie über die Jahre verteilt in damals bedeutende Städte wie Trier, Metz, Andernach, Köln und Maulbronn. Ihre Visionen sind nicht einfach zu lesen, aber ihre Theologie ist geprägt von der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung. Hildegard von Bingen nennt dies die Grünkraft (lat. viriditas). „Die Grünkraft ist der Segen Gottes. Der Geist Gottes in der Schöpfung, ohne diese Kraft wäre nichts: keine Bewegung, kein Wachstum, keine Vielfalt.“ Da Gott den Menschen liebt, lehnt sie strenge Askese, strengstes Fasten oder gar Selbstgeißelung, wie es damals im Kloster normal war, komplett ab. Ein großer Widerspruch zur damaligen Lehre der Kirche.  

Widersprüchlichkeit - eine Eigenschaft von Hildegard von Bingen

Auf der einen Seite ist sie eine machtbewusste Frau, was in ihrer Karriere zum Ausdruck kommt. Auf der anderen Seite steht die demütige und einfältige Gottesbeziehung, die den Grund ihres tiefsten Wesens bildet. Typisch für Hildegard ist ein großes Maß an Emotionalität, die nahtlos in planende Rationalität übergeht. Diese Gegensätzlichkeit reicht vom permanenten Selbstzweifel mit körperlicher Krankheit bis zur öffentlichen Person: Hildegard von Bingen, die zielstrebig mit großer Gewissheit ihren eigenen Visionen folgt.

In einem für die Zeit außergewöhnlich hohen Alter von 81 Jahren starb Hildegard von Bingen am 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg in Bingen. Heiligsprechungsverfahren im 13. und 14. Jahrhundert scheiterten wohl auch, weil sich die kirchlichen Behörden nicht eins über sie werden konnten. Obwohl die Ordensfrau nie offiziell heiliggesprochen wurde, wird ihr Gedenktag, der 17. September, seit dem 20. Jahrhundert in ganz Deutschland begangen. 1979 schlug die Arbeitsgemeinschaft katholische Frauenverbände vor, Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin zu erheben - ein Ehrentitel den bisher nur drei Frauen tragen.

Acht Jahre später kam aus Rom die Antwort, dass sie erst zur Kirchenlehrerin erhoben werden kann, „wenn sie vorher offiziell heiliggesprochen werden würde“. Doch ob nun offiziell oder nicht, sie ist auch ohne amtliches Papier längst eine Lehrerin der Kirche.  

 

Text: Katrin Jaskulski